Hilfsaktionen der Schwedischen Israelmission

von: 
Thomas Prammer

Guten Abend, meine Damen und Herren.

Mein Name ist Thomas Pammer. Ich bin Historiker und Skandinavist und habe mich mit der Schwedischen Israelmission auseinandergesetzt, besonders mit ihren Kindertransporten nach Schweden und der Integration der Kinder in die schwedische Gesellschaft. Dank der Evangelischen Akademie und Frau Dr. Beuth habe ich die Ehre, Ihnen heute Abend einen Vortrag über Aspekte der Tätigkeit dieser Missionsgesellschaft in Wien zu halten.

Ich nehme an, dass viele unter Ihnen sind, die schon Vorwissen über die Tätigkeit der Israelmission haben, die z.B. noch Mitarbeiter der Israelmission gekannt haben oder selbst Mitglied in dieser Gemeinde waren. Ich glaube aber auch, dass einige unter Ihnen vielleicht noch sehr wenig wissen über diese Missionsgesellschaft, und daher möchte ich zunächst einen kurzen Abriss darüber geben, was diese Schwedische Israelmission überhaupt war.

Gegründet wurde diese Missionsgesellschaft 1876 in Stockholm, und wie ihr Name schon sagt, ist ihr Ziel die Bekehrung von Juden zum Christentum. Sie war nominell selbständig, bekam später aber einen Großteil ihres Personals von der Schwedischen Staatskirche gestellt. Finanzieren musste sie sich vorläufig jedoch rein über Spenden. Die Israelmission hatte im Verlauf ihrer Geschichte viele Missionsstationen, wie etwa in Paris, Casablanca oder Jerusalem. Aber jene, die für die Erinnerung an die Mission am vielleicht wichtigsten war, war in Wien, wo sie von 1922-1976 aktiv war. Aufgrund der großen jüdischen Bevölkerung Wiens (um 1930 etwa 190.000 Personen oder fast 10% der Gesamtbevölkerung) wurde die Stadt als vielversprechendes Missionsgebiet gesehen. Haupthaus der Mission befand sich in der Seegasse in Wien-Alsergrund. Von Anfang an lag ein Schwerpunkt der Arbeit auf Kindern und Jugendlichen, was auch mitverantwortlich für das schwierige Verhältnis zur jüdischen Gemeinde war.

Nachdem die ersten Jahre eher ruhig waren, übernahm 1933 Friedrich Forell, ein aus Deutschland geflüchteter Pastor jüdischer Herkunft die Leitung. Mit ihm begann eine offensive Missionsarbeit und zwar gegen den Willen der Evangelischen Kirche, die keine aktive Missionierung unter Juden wünschte. Der Grund dafür waren natürlich die starken, völkisch-nationalsozialistischen Tendenzen, die sich damals in der evangelischen Kirche immer mehr durchzusetzen begannen, also die Ansicht vieler evangelischer Christen und Pfarrer, man wolle eine ‚reine‘, ‚arische‘ Kirche haben.

Die Missionsarbeit war dennoch sehr erfolgreich, bis 1938 wurden fast 300 Menschen in der Seegasse getauft.

Ab 1934 wirkte die damals 25jährige schwedische Diakonisse Greta Andrén in Wien, seit 1936 auch der damals 29jährige Göte Hedenquist, ein schwedischer Pastor, der auch mit der Seelsorge für die in Wien lebenden Schweden betraut wurde.

Der ‚Anschluss’ im März 1938 war schließlich eine Zäsur für die Mission. Zum einen wollte die evangelische Kirche nun alle jene Gläubigen loswerden, die mehr als zwei jüdische Großeltern hatten, somit laut NS-Rassenideologie als ‚nicht-arisch’ galten und auf mannigfaltige Weise diskriminiert wurden. (Kurzer Einschub: Ich bin mir vollkommen bewusst, wie problematisch der Ausdruck ‚arisch’ ist, der aus der NS-Rassenideologie stammt, ich muss ihn aber mangels Alternativen dennoch benutzen) Die Israelmission war nun inoffiziell für fast 8.000 evangelische Wiener jüdischer Herkunft zuständig. Zum anderen drohten die Nationalsozialisten Missionsleiter Göte Hedenquist, der inzwischen die Nachfolge des geflohenen Forell angetreten hatte, damit, die Mission zu schließen, wenn die Missionare nicht genau das tun würden, an dem die Nationalsozialisten das größte Interesse hatten – nämlich, ‚Nicht-Ariern’ bei der Auswanderung zu helfen, oder mit anderen Worten: sich an der Vertreibung der ‚nicht-arischen’ Bevölkerung Wiens zu beteiligen. Insgesamt konnte die Israelmission, auch dank der relativ guten Zusammenarbeit Hedenquists mit Adolf Eichmann, der in Wien für die Vertreibung der 'Nicht-Arier' zuständig war, etwa 1.500 Personen die Ausreise ermöglichen, die meisten davon evangelische Christen und zum Großteil nach England, in die USA und nach Schweden. Sehr wichtig wurde auch die soziale Arbeit der Mission: Aufgrund der zunehmenden Verarmung vieler Gemeindemitglieder wurde eine tägliche Suppenküche eingerichtet, ein Wohnungsbüro, eine Schule sowie in Weidling bei Klosterneuburg ein Altersheim. Im Februar 1941 begannen die Deportationen ‚nicht-arischer’ Wiener nach Polen, wo sie unter katastrophalen hygienischen Umständen in Ghettos polnischer Kleinstädte gesperrt wurden. Die Mission unterstützte diese Vertriebenen mit Geld, Nahrung, Kleidung und auch seelischem Beistand; all diese Hilfsaktionen ohne jedwede Hilfe durch die evangelische Kirche. Mindestens gleich wichtig war die Seelsorgearbeit: In Wien, einer Stadt wo ‚Nicht-Ariern‘ das Betreten von Parks, der Besuch von Theatern und Kinos verboten war, war die Israelmission einer der wenigen Orte, an denen diese Verfolgten willkommen waren. Die Anzahl der Gottesdienste musste durch den starken Zustrom von Gläubigen die Zahl der Messen verdoppelt werden, und die Jugendarbeit wurde stark ausgebaut. Unter den Jugendlichen, die damals den Weg in die Mission fanden, war auch die spätere Schriftstellerin Ilse Aichinger.

Im Juni 1941 wurde die Missionsstation auf Anordnung der Gestapo geschlossen, das Altersheim im Oktober. Jene Gemeindemitglieder, die nicht ins Ausland hatten fliehen können, wurden zum Großteil ermordet.

Die Israelmission kehrte 1946 nach Wien zurück, nicht weil es noch viele Juden zu bekehren gegeben hätte, sondern weil jene evangelischen Christen, die 1938 wegen ihrer Herkunft aus ihren Kirchengemeinden ausgestoßen wurden, sich weigerten, in diese zurückzukehren und weiterhin in der Seegasse ihr geistiges Zuhause sahen. 1951 trat Felix Propper (auf den ich später noch kommen werde), ein Pfarrer jüdischer Herkunft, in den Dienst der Mission ein und leitete den Übergang von der Judenmission zu einem christlich-jüdischen Dialog ein. 1976 verließ die Israelmission Wien, im gleichen Jahr wurde die Schwedische Israelmission als eigenständiger Verein aufgelöst und in die Schwedische Kirche integriert.

Das ist die sehr kurz gefasste Geschichte der Israelmission, wie sie seit langem in Österreich bekannt ist. Es hat schon etliche Veranstaltungen gegeben, in denen den Missionaren und ihren unbestrittenen Leistungen gedacht worden ist, das letzte Mal im November 2010 bei einem ausgezeichneten Lesetheater.-

Und doch ist heute Abend alles anders. Denn fast alles in unserer Welt ist einem beständigen Wandel unterworfen, und genauso ist es unser Blick auf die Vergangenheit. Und manchmal wird durch ein bestimmtes Ereignis der Diskurs über vergangene Geschehnisse, wo wir glaubten, dass ein Konsens geherrscht hätte, grundlegend verändert.

Dieses Ereignis, das die Sicht auf die Israelmission fundamental verändert, war das Erscheinen eines Buchs im August 2011. Ein Buch, das einige von Ihnen vermutlich schon gelesen haben, und das viele noch lesen werden. Es trägt den Titel „Och i Wienerwald står träden kvar“ (Und im Wienerwald stehen immer noch die Bäume), und beruht im Wesentlichen auf 500 Briefen, die ein Wiener Elternpaar an ihren Sohn Otto Ullmann schickte, der als 13jähriger über die Israelmission nach Schweden flüchten konnte. Die Eltern wurden in Auschwitz ermordet, der Sohn blieb in Schweden, und bewahrte die Briefe auf. Nach seinem Tod übergab seine Tochter die Briefe an die schwedische Schriftstellerin Elisabeth Ǻsbrink. Diese verarbeitete die Briefe und eigene Recherchen zu einer einzigen zornigen Anklage gegen die Israelmission im Speziellen und die Politik und Gesellschaft Schwedens der späten 1930er im Allgemeinen. In diesem Buch wird der Direktor der Mission, Birger Pernow, als verkappter, zynischer Antisemit dargestellt, die Missionare in Wien als Personen, denen es nur darum ging, Gott neue Seelen zuzuführen und die jüdische Eltern erpressten, ihre Kinder taufen zu lassen – weil diese sonst nicht ‚gerettet’ werden könnten. Und die strahlenden Helden sind plötzlich Feiglinge, die es nicht wagen, schwedische Regierung oder Öffentlichkeit gegen den Massenmord an den Juden, über den sie eingehend Bescheid wissen, zu informieren.

Ich war zufälligerweise in jenem Zeitraum, in dem das Buch erschienen ist, in Schweden, und ich weiß, wie viel Zuspruch, aber wie viel Kritik dieses Werk bekommen hat. Man kann viele Argumente dagegen vorbringen: mangelnde Wissenschaftlichkeit, keinerlei Anspruch auf Objektivität, Polemik, Vermischung von Fakt und Fiktion. Und dennoch kann ich nicht umhin, darüber heute Abend zu sprechen. Denn es war ein großer Verkaufserfolg in Schweden, sehr viele Menschen haben das Buch gelesen, es hat den Preis für das beste Sachbuch erhalten, und es prägt den Diskurs über die Israelmission in Skandinavien. Und wenn es im Frühjahr nächsten Jahres auf Deutsch erscheint, wird die Tätigkeit der Israelmission auch in Österreich viel bekannter machen und auch hierzulande den Diskurs nachhaltig verändern. Und auch wenn ich mit den Recherchen zu meiner Arbeit schon begonnen habe, lange bevor Wienerwald herauskam, hat dieses Buch auch meinen Blick auf die Israelmission verändert. Mir hat lange Zeit einfach der Blick dafür gefehlt, dass nicht alles, was die Missionare getan haben, nach unseren heutigen moralischen Maßstäben einwandfrei war, und dass es durchaus damals schon Kritik an den Missionare und ihren Arbeitspraktiken gegeben hat, sogar von Menschen, die der Mission ihr Leben verdanken.

Mein Ziel an diesem Abend ist nun nicht, das Gedenken an die Leistungen der Israelmission zu ‚beschmutzen‘. Aber wie ich über die Veranstaltungsreihe „Mechaye Hametim“ gelesen habe, nutzen viele christliche Organisationen dabei die Gelegenheit, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen, was ja bei der Schwedischen Israelmission mangels Präsenz in Wien nicht mehr möglich ist. Und darüber hinaus möchte ich diesmal auch jenen nicht wenigen Betroffenen eine Stimme zu geben, die keine positive Meinung von der Israelmssion hatten, die sich von den Missionaren getäuscht fühlten und voller Zorn auf die Mission waren. Die subjektiv das Gefühl hatten, dass es den Missionaren gar nicht um sie selbst als Menschen ging, sondern nur darum, aus ihnen Christen zu machen. Und die es nicht ertragen konnten, dass sie ständig ermahnt wurden, Gott für ihre Rettung dankbar zu sein, während ihre Angehörigen oftmals ermordet wurden.

Ich möchte zur für mich zentralen Frage kommen, nämlich nach der Weltanschauung der Mission und folglich der Frage: „Hatten die Missionare der Israelmission eine antisemitische bzw. antijüdische Einstellung?“ Dieser Vorwurf ist nicht ganz so kurios, wie er sich zunächst anhört.

Denn dieser Eindruck wird im genannten Buch von Ǻsbrink durchgehend transportiert und auch Ilse Aichinger deutet so etwas in einem Artikel an, wo sie schreibt:

„In der 'Schwedischen Mission für Israel' wollten sie uns, 'rassisch unreine' Mädchen, wohl

zum wahren Glauben 'bekehren': Jetzt, da alle diesen Begriff so inflationär verwenden,

müsste ich das wohl 'antisemitisch' nennen.“ (Die Schweden in Wien, Unglaubwürdige Reisen, Juni 2002)

Ich möchte meine Ausführungen mit einem Text beginnen, der unmittelbar auf jenes Ereignis Bezug nimmt, der der Anlass für den heutigen Abend ist: die Novemberprogrome, die fast auf den Tag genau vor 75 Jahren stattgefunden haben. Damals wurden 43 Wiener Synagogen und Bethäusern zerstört, hunderte jüdische Geschäfte geplündert, eine unbekannte Zahl von ‚Nicht-Ariern‘ ermordet, 41 begingen Selbstmord, mehr als sechstausend Juden verhaftet, davon viertausend in das KZ Dachau gebracht, wo nochmals ca. hundert Wiener Juden umgebracht wurden. An diesem Tag zerstörten die Nazis das jüdische Kultur- und Wirtschaftsleben in Wien mit dem Ziel, die ‚Nicht-Arier‘ zu vertreiben, und ihres Vermögens zu berauben.

Greta Andrén gab im Jahr 1944 das Buch „Ein Brief Christi“ heraus, in dem sie den Erweckungsweg von Gerty Fischer, einem Gemeindemitglied von SIM nachzeichnet. Diese war ursprünglich nichtgläubige Jüdin, wird aber durch den Kontakt mit der Mission und Schwester Andrén, die sich im Buch Ebba nennt, zu einer tiefgläubigen Christin. Über die Novemberpogrome schreibt sie:

„Und so kommt der 10. November 1938.

An diesem Tage liegt eine drückende, dumpfe Unruhe über Wien. In den jüdischen Stadtvierteln sieht man nicht einen einzigen Menschen auf der Straße. Die Rollgardinen sind heruntergelassen, obgleich es erst nachmittags ist; alle Türen sind fest verschlossen.

Niemand weiß etwas Bestimmtes; aber alle ahnen, dass etwas im Gange ist. Der deutsche Legationssekretär in Paris ist von einem jungen Juden ermordet worden. Wird diese Tat Folgen für die Juden in Deutschland und Österreich haben? Man weiß ja nie, was geschehen kann… Da ist es in jedem Fall am besten, sich nicht auf der Straße zu zeigen. So wirken die jüdischen Viertel wie ausgestorben.

Gerty und ihr Mann Georg sind auf dem Weg heim von einer Bibelstunde. Auf der Straße werden sie plötzlich von uniformierten Männern aufgehalten:

‚Ausweise!’

Da sie nicht schnell genug ihre Identitätskarte hervorzerren können, erhält erst Georg einen Schlag auf den Kopf, so dass er zu Boden stürzt, dann wird auch Gerty geschlagen.

Die Uniformierten verschwinden. Gerty und Georg helfen einander auf und gehen nach Hause.

Schwester Ebba erfährt, was geschehen ist, und besucht die beiden. Ängstlich denkt sie daran, wie Gerty wohl mit dieser Not fertig wird. Wird ihr Glaube standhalten, oder wird sie sich wieder in Angst und Unruhe verlieren?

Aber Ebbas Unruhe war unnötig. An der Tür empfängt Gerty Ebba und erzählt ihr genau, wie alles gewesen ist: „In dem Augenblick, da wir zu Boden geschlagen wurden, wurde mir alles klar und gewiss, was mir bisher im christlichen Glauben unklar war. Ich fühlte, wie Christus an unserer Seite stand. Ja, ich fühlte, dass Gottes Liebe stärker und wirklicher war als der Hass, der auf mich losschlug. Jetzt erst verstehe ich die ganze Wahrheit des Wortes: „Wer kann uns scheiden von der Liebe Gottes in Christus Jesus?“

Am Morgen des nächsten Tages hört man überall Lärm, Klirren und Geschrei. Vor den Synagogen sammeln sich große Scharen von Menschen, aufgehetzt durch eine glühende Propaganda.

Einer aus dem Haufen springt vor und stürmt hinein in die Synagoge und schlägt mit einem Holzprügel alles zusammen, was ihm in den Weg kommt. Die Menschenmenge strömt ihm nach. Man reißt nieder, man drischt alles zusammen, was einem gläubigen Juden heilig ist. […] Die jüdischen Geschäfte werden gestürmt, alles auf die Straße geworfen. Uniformierte Burschen schleudern Möbel und Hausgerät aus den jüdischen Wohnungen hinunter auf das Straßenpflaster.

Und zwischen den Häusern, durch enge Gassen, schleichen ängstliche, gepeinigte Menschen davon, um dem Schrecken zu entkommen.

Und zwischen den Häusern, durch enge Gassen, eilt Gerty, um Leute zu besuchen, die es noch schlechter haben sie selbst, und um ihnen zu helfen.

Ängstlich ist sie nicht mehr. Es gibt ja nichts mehr, was ihr schaden könnte. Sie denkt auch nicht mehr an ihre Wohnung und an die wenigen Dinge, die ihr noch gehören. Sie kann ja nichts mehr verlieren. In all ihrer Armut ist sie ja so reich geworden, unendlich reich, und in all ihrer Sorge hat sie eine große Freude geschenkt bekommen. Mit dieser Freude und mit diesem Reichtum eilt sie zu denen, die die Geborgenheit des Glaubens nicht kennen. (4:30)

(Greta Andrén, Ein Brief Christi, 21-23).

Im letzten Absatz schimmert hier bereits jene theologische Weltsicht durch, die den Missionaren später viel Kritik einbringen wird. Es wird nämlich suggeriert, dass die Pogrome mit den Hunderten Ermordeten und all dem unermesslichen Leid einen Sinn haben. Nämlich, dass Menschen, wie etwa Gerty Fischer, zum christlichen Glauben finden. Eine solche Einstellung muss natürlich Menschen, die diese beschriebene „Geborgenheit des Glaubens“ nicht kennen, wie blanker Hohn erscheinen.

Ein anderer Israelmissionar, Birger Pernow, geht in seiner Interpretation der Novemberpogrome noch einen Schritt weiter. Pernow war seit 1930 Missionsdirektor in Stockholm und verfasste viele theologische Schriften. Im Februar 1939 versucht er die Ereignisse der Novemberpogrome zu deuten. Und er sieht in diesen Pogromen ganz klar das Wirken Gottes. Er schreibt:

 „Sind diese Pogrome nur die beklagenswerten Folgen einer rücksichtslosen Kriegsführung, oder haben diese Ereignisse einen tieferen göttlichen Sinn? Stellen diese Ereignisse den Abschluss von etwas Altem und den Beginn einer neuen Epoche dar? Es sieht fast so aus. [und weiter:] Jetzt ist Gott am Werk. Seine Absicht mit den gegenwärtigen Ereignissen ist es sicherlich, sein Christentum zu läutern und die ungehorsamen Juden zur Besserung zu bringen.“ (Missionstidning för Israel 02/1939, 43-44)

Ein schwedischer Theologe kommt dabei zum Schluss, dass diese Weltsicht in letzter Konsequenz den Juden selbst die Schuld am Holocaust zuschiebt. Und eine solche Einstellung ist aus heutiger Sicht durchaus als „antijüdisch“ zu bezeichnen.

Es ist aber auch wichtig, festzuhalten, dass das kein ausschließliches Problem der Schwedischen Israelmission war, sondern, dass dieser judenfeindliche Zug typisch war nicht für alle, aber viele Judenmissionare. Ich möchte noch zwei Beispiele anführen, die illustrieren sollen, dass eine solche „apokalyptische“ Weltsicht völlig unabhängig von Herkunft und politischer Überzeugung sein kann.

Das erste Beispiel ist Heinrich Grüber, ein Berliner Propst und Widerstandskämpfer, der getauften Juden bei der Flucht aus Deutschland half und damit auch eng mit der SIM zusammenarbeitete. Er war jahrelang in Konzentrationslagern gefangen und war 1960 Zeuge im Prozess gegen Adolf Eichmann. Und trotz dieser kompromisslos antinationalsozialistischen Haltung vertrat er gegenüber einem Rabbiner Richard Rubenstein die Ansicht, dass es Gottes Wille war, mit Hilfe von Hitler das europäische Judentum auszurotten, weil es sich geweigert hatte, sich zum christlichen Glauben zu bekehren.

Rubenstein schrieb dann dazu: „Ich wusste, dass Grüber kein Antisemit war und dass seine Behauptung, der Gott des Bundes war und sei letztlich der Urheber der großen Ereignisse der Geschichte Israels, sich nicht vom Glauben eines der Tradition verbundenen Juden unterschied. Ich erkannte, dass, wenn man die biblische Geschichtstheologie ernst nimmt, Adolf Hitler in gleichem Maße ein Werkzeug von Gottes Zorn ist wie Nebukadnezar.“ (Stimmen der Zeit 03/1996, 187-188)

Wir sehen also, dass hinter diesem Weltbild nicht ausschließlich antijüdische Attitüden stehen müssen, sondern der Grund auch in dieser bis in die letzte Konsequenz durchgedachten ‚biblischen Geschichtstheologie‘ liegen kann.

Man könnte das jetzt als rein akademisch-theologische Frage abtun, die die sonstige karitative Tätigkeit der Israelmission nicht beeinflusst hat. Problematisch wird diese Weltsicht allerdings dadurch, dass ihr inhärent ist, dass der Mensch nichts ausrichten kann gegen den großen Plan Gottes. Und folglich hat auch Widerstand gegen menschenverachtende Regime keinen Sinn, weil es einzig an Gott liegt, Veränderungen herbeizuführen. Pernow schreibt, bezogen auf die Novemberpogrome:

„Aber was sollen wir tun? Gegen die Gewalt protestieren? Das würde nichts nützen. Gewalt mit Gewalt begegnen? Möge uns Christen das fern liegen. Es wurde schon von einer spirituellen Aufrüstung gesprochen, und momentan erscheint mir dies als das nützlichste. […] So rufe ich nun dazu auf, Gott zu danken und zu beten für alle Menschen, für die Könige und die Obrigkeiten, damit wir ein ruhiges und friedliches Leben frommer und würdiger Art leben können.“

Die Israelmission hatte meines Erachtens eine besondere Verantwortung, weil sie eine jener Organisationen war, die am besten über alle Stadien des Holocaust informiert war, aufgrund ihrer Präsenz in Wien, dem Briefkontakt zu vielen Deportierten und dem ständigen Informationsaustausch mit anderen Judenmissionen. Es ist natürlich rein spekulativ zu fragen, was die Israelmission bei einer entsprechenden Hartnäckigkeit erreichen hätte können, aber es wäre wenigstens denkbar gewesen, dass es Israelmission und Schwedischer Kirche bei entsprechender hartnäckiger Öffentlichkeitsarbeit und Lobbying geschafft hätten, zumindest die restriktive Asylpolitik Schwedens etwas aufzuweichen. Bis Oktober 1941, also praktisch bis es zu spät war, haben die schwedischen Behörden ‚jüdische Rassenzugehörigkeit‘ nicht als Asylgrund anerkannt. Eine etwas frühere Änderung hätte vielleicht vielen Verfolgten das Leben gerettet.

Die Frage stellte sich aber nicht, da Pernow nicht nur keine Informationen weitergab, sondern sie noch zu unterdrücken versuchte. So etwa im Jänner 1943, als die freikirchliche Judenmission einen Bericht über die Vernichtungslager mit Gaskammern veröffentlichte, in denen unzählige Juden ermordet würden. Pernow beschwerte sich in einem Brief an den Herausgeber mit einer interessanten Begründung:

„Solches ruft doch nur weiteren Hass und Bitterkeit hervor, und dazu sollten wir Christen nicht beitragen. Unsere christliche Pflicht ist vielmehr […] allen die frohe Botschaft der Erlösung zu verkünden, sowohl Verfolgern als auch Verfolgten.“ (Koblik, The stones cry out, 138)

Eine ähnliche Weltsicht wie Pernow vertrat auch Erwin Reisner, ein österreichischer evangelischer Theologe, der selbst jüdische Vorfahren hatte und 1938 im Dienst der Schwedischen Israelmission stand. Er schilderte dem Sekretär der evangelischen Welt-Judenmission im Mai 1938 die Situation in Wien folgendermaßen:

„Die Lage der Juden in Wien und Österreich ist hoffnungslos, noch schlimmer als im Rest Deutschlands, einfach deshalb, weil die Österreicher die erbittertsten Antisemiten sind – und das nicht völlig grundlos. […] Die Lage ist so verzweifelt, dass man umsonst nach einer Lösung für das Problem sucht. Es scheint, als ob Gott selbst hinter diesen Geschehnissen steht, und wir viel zu schwach sind, die Welt wieder ins Lot zu bringen. […] Ganz offensichtlich zielt Gott in seinem Heilsplan auf die Bekehrung des gesamten israelitischen Volkes. Aus diesem Grund auch hat er Antisemitismus unter den Völkern zugelassen.“ (Röhm, Christen, Juden, Deutsche, III, 128)

Hier spürt man etwas durch, was einem heutigen Menschen oft unglaublich erscheint, nämlich, dass man in den Schriften der Missionare immer wieder Stellen findet, in denen sie eine Art Verständnis für den Judenhass äußern.

Ein interessantes Dokument hierzu ist ein Artikel von Johannes Ivarsson, der 1940-41 Leiter der Missionsstation in Wien war. Er beschreibt 1942 einem schwedischen Publikum, wie die Wiener Mehrheitsbevölkerung die Juden gesehen hat, und versucht auch eine Erklärung für diesen Hass zu geben:

„Ich glaube, dass wir uns kaum eine Vorstellung über den glühenden und unauslöschlichen Hass gegen die Juden in Wien machen können. Es war nicht nur eine kleine Clique, die die Juden hasste; man kann ohne Übertreibung sagen, dass es sich um einen wahren Volkshass handelte, den man in allen Gesellschaftsschichten fand, oft sogar bei Personen mit einer völlig anderen politischen Einstellung als der herrschenden.

Die führenden Männer dort unten waren sich ohnehin einig, wie das Judenproblem gelöst werden sollte. Die Juden mussten vernichtet werden. Sie mussten ausgeräuchert werden, wie man Ungeziefer in einem Haus ausräuchert. Manche der Besonneneren mochten die Leiden beklagen, die das für den einzelnen Menschen bedeutete. Aber hier galt es, sich am Riemen zu reißen, um sich nicht von weichlichem Mitgefühl übermannen zu lassen. Schließlich ging es um das allerheiligste, das germanische Blut, und deswegen wurde dieser Kampf ein heiliger Krieg, ein Gottesdienst.

Daher drängt sich uns die Frage auf: Was ist die Ursache für diesen Hass? Wenn ich diese Frage in Schweden stellte, hatte viele die Antwort gleich parat: Es gibt keinen Grund. Es ist nur Propaganda. Man brauchte einen Sündenbock und nahm die Juden, weil Fremdenfeindlichkeit in jedem Menschen latent ist. Aber nein, es ist nicht nur Propaganda. So einfach ist es nicht. Es gab ein Judenproblem, welches kurz gesagt darin bestand, dass die jüdische Volksgruppe einen politischen und ökonomischen Einfluss besaß, der im Missverhältnis zu ihrer Anzahl stand. Die 200.000 Wiener Juden beherrschten die Stadt. Fast alle Ärzte und Anwälte waren Juden. Fast die ganze Presse war in jüdischer Hand.

Wie hatte es so weit kommen können? Wie hatten die Juden derart großen Einfluss gewinnen können? Durch fleißige Arbeit. Ein Jude hat mehr Energie als ein Småländer. Er kann sowohl auf Nahrung als auch Kleidung in unglaublichem Ausmaß Verzicht üben. Er opfert ohne mit der Wimper zu zucken Erholung und Schlaf, Gesundheit und Kräfte, um vorwärts zu kommen. Er verfügt über eine Zielstrebigkeit ohne gleichen. Außerdem verfügt er über eine Dreistigkeit, die etwa unter Schweden sehr selten ist. Sicherlich sind solche Verallgemeinerungen problematisch, und es gibt genug Ausnahmen. Aber man muss doch zugeben, dass der Jude im Allgemeinen über gute Ellbogen verfügt, und selten eine gute Gelegenheit auslässt, sie einzusetzen. Wie wir also sehen, eine eigenartige Mischung aus guten und schlechten Eigenschaften, welche zusammen das vollendete Überlebensgenie schuf.“ (Kan Judafolket räddas?, 1943)

Während Ivarsson also sozioökonomische Gründe dafür sah, argumentierte Pernow hingegen wieder theologisch:

„Jahrhundertelang hatte der Jude das Zeichen von Friedlosigkeit und Unruhe auf seiner Stirn getragen: das Zeichen des Ahasverus, des wandernden Juden. ‚Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.’ Wie jedes Volk hatte auch der Jude seine besonderen Züge, aber bei ihm treten sie viel deutlicher hervor – und wecken oft Widerwillen.

Sehr oft trifft man auf die Frage: „Warum ist der Jude immer und überall verhasst?“ Diese Frage ist nicht leicht eingehend zu beantworten, weil sie mit diesem jüdischen Charakterzug zusammenhängt. Dieser besteht nicht nur in seiner bekannten Lebensenergie, die leider oft seinen Ausdruck in der unsympathischen Art findet, stets seine Ellbogen einzusetzen.

Der innerste Kern dieser Eigenart liegt für mich im Spannungsverhältnis, von Gott gleichzeitig auserkoren und verworfen worden zu werden. Auserwählt gewesen zu sein, Gottes Volk und Diener gewesen zu sein, betraut mit der gesamten göttlichen Offenbarung und mit dem hochheiligen Auftrag diese der ganzen Welt zu vermitteln, aber stattdessen diese Ehre und Segnung zurückgewiesen und ihn verraten zu haben – dies musste tiefe Spuren hinterlassen.“ (Kan Judafolket räddas?, 10)

Um mit dieser Frage zu einem Ende zu kommen, darf man natürlich nicht vergessen, dass manche Missionare entschieden gegen den Antisemitismus auftraten, z.B. schrieb Seth Asklund, ein anderer Missionar, der in Wien tätig war, ebenfalls 1942:

„Uns Christen ist bewusst, dass diese Verfolgungen klar unchristlich sind, mit welchen Motivationen sie sich nun zu rechtfertigen versuchen. Hier gibt es für ein christliches Gewissen keine Ausflüchte: Der moderne Antisemitismus ist antichristlich und muss als solcher behandelt werden.“ (Kan Judafolket räddas?)

Aber dennoch scheint es mir so, dass die Missionare nicht, wie wir es gerne hätten, immun gegen den antisemitischen Diskurs der Zeit waren, sondern teilweise sogar mittendrin waren. Problematisch daran war auch, dass diese Haltung einige von der Mission gerettete Menschen  zutiefst verletzte und zu einer Entfremdung vom christlichen Glauben führen konnte.

Es spricht für die Missionare, dass nach dem Krieg, als der Holocaust in seiner ganzen Dimension klar wurde, sehr langsam, aber doch, ein Umdenken einsetzte. Nicht bei allen, etwa wollte Pernow gleich weiterarbeiten wie bisher, aber andere wie Hedenquist, der später auch die Gesamtleitung übernahm, erkannten, dass das dies nach der Ermordung eines Drittels aller Juden durch Christen nicht mehr möglich war. In diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, dass 1951 ein Pastor mit dem Seelsorgedienst betraut wurde, der neue Wege in der Judenmission gehen wollte. Sein Name war Felix Propper, Rechtsanwalt und gebürtiger Jude, der mit 22 zur evangelischen Christentum übertrat. Seine Frau, sein Sohn und seine beiden Töchter – die heute noch in Wien wohnen – flohen nach dem Anschluss nach Schweden, er selbst nach Frankreich und später in die Schweiz, wo er Theologie studierte.

Propper postulierte zunächst etwas, was heute allgemein anerkannt ist, aber damals für viele Christen nicht zu akzeptieren war, nämlich, dass der Antisemitismus wie er sagte „ein christliches Gewächs aus christlicher Wurzel“ ist, also aus einer Abirrung im frühesten Christentum entstanden ist, von der ein direkter Weg zum Holocaust führte. Und er postuliert, dass die Juden, christliche wie ‚synagogengläubige‘, ein Volk mit eigener Identität wären. Mit der Zeit wurde Propper zu einem entschiedenen Gegner der Judenmission, weil diese die Juden als Volk mitsamt seiner Identität vernichten wolle. Er schreibt:

 „Unter gar keinen Umständen aber ist eine Judenmission zulässig. Sie beruht auf einer völligen Verkennung nicht nur der geschichtlichen Ereignisse, die die Entstehung der Kirche und die Trennung von Israel bewirkt haben. Sie ist ein wichtiger Assimilationsfaktor geworden, der zum Untergang des jüdischen Volkes führen muss. Sie ist nach der Vernichtung von einem Drittel des jüdischen Volksbestandes und gerade des lebenskräftigsten, seiner Eigenart noch bewussten Teiles nichts anderes als die Fortsetzung der Judenausrottung mit anderen Mitteln.“ (Judenchrist 186, 1961)

Da diese Meinung weder von der Schwedischen Israelmission noch von der evangelischen Kirche in Österreich mitgetragen wurde, gründete er, zunächst unter Mitgliedern der Seegassenmission, die Allianz der Christen jüdischer Abstammung. Über sie schreibt er:

„Wir sind Christen jüdischer Abstammung, die ihre Herkunft weder verachten, noch verleugnen, sondern sich freudig zu ihr bekennen, die sich als Glieder ihres jüdischen Volkes betrachten und mit ganzer Kraft für seinen Staat Israel eintreten. Wir sind keine getauften Juden, die den Anschluss an den christlichen Glauben lediglich als Mittel der Assimilation betrachten, um gesellschaftliche und wirtschaftliche Nachteile zu vermeiden. Wir sind – von der Daseinsberechtigung und Sendung des jüdischen Volkes überzeugt – auch als Christen entschlossen, unsere besondere Eigenart als Juden zu erhalten und auch bei unseren Familienangehörigen, Kindern und Kindeskindern für die gleiche Haltung einzutreten.“

Ein weiterer Vorwurf gegen SIM lautete dass die Taufe eine Grundbedingung war, um von der Israelmission materielle Hilfe zu erhalten, oder, wie Asbrink es formulierte:

Pernows Plan war einfach. Er sah den drohenden Untergang und wollte jene retten, die der Rettung wert waren. Die Bekehrten. Falls sie auch wohlerzogen waren. Und angesehene Eltern hatten.“ (Och i Wienerwald, 67)

Dies wird immer als eine entscheidende Frage für die Glaubwürdigkeit der Israelmission dargestellt, z.B. meinte Waltraut Kovacic, die damalige Direktorin der Evangelischen Akademie anlässlich des Lesetheaters im Jahr 2010:

„Von der Hilfe her wurde, wie man an den Fürsorgeakten sieht, kein Unterschied gemacht. Egal ob Bekenntnis evangelisch oder mosaisch, wer Hilfe braucht der kriegte sie.“ (Website Ö1)

Die Israelmission hielt sich nach dem Krieg immer zugute, keinen Unterschied in der Religion gemacht zu haben. Hedenquist schrieb in seinen Memoiren 1982 darüber folgendes:

„Wir machten in der Seegasse niemals einen Unterschied zwischen Juden und Nicht-Juden. Zwar wurde die Seegasse nach und nach hauptsächlich zu einer Gemeinde evangelischer Christen jüdischer Herkunft, doch fanden trotzdem viele Juden mosaischen Bekenntnisses oder ohne Konfession den zu Weg zu uns. […] Ich lernte schnell, die Besucher unserer Gottesdienste niemals zu drängen, ihren jüdischen Glauben aufzugeben, falls sie einen solchen hatten. Die materielle Not, die sie vielleicht zu uns trieb, sollte nicht der Anlass sein, ihre Religion zu verraten.“ (Undan förintelsen, 60)

Aber so einfach war es nicht. Die Kapazitäten der Israelmission waren beschränkt, und aus Akten geht ganz klar hervor, dass die Missionare den evangelischen Christen stets absolute Priorität einräumten: So lautet die Antwort der Israelmission vom 19. Mai 1942 auf eine Bitte nach materieller Unterstützung einer Jüdin in einem Ghetto folgendermaßen:

„Da die schwedische Israels-Mission ihre Aufgabe vor allem darin hat, das Wort Christi an

Menschen jüdischer Abstammung zu verkünden, fällt die Fürsorge für Israeliten nicht in

ihren Bereich. […] Wir würden Ihnen raten, sich mit Ihrer Bitte an die Israelitische

Kultusgemeinde (Mosaiska Församlingen) zu wenden. Man wird annehmen dürfen, dass sich diese Körperschaft um das Schicksal ihrer Glaubensgenossen so gut wie möglich annimmt.“

Auch im Kindertransport der Mission nach Schweden vom Februar 1939, den ich etwas genauer erforscht habe, war es so, dass so gut wie alle Kinder evangelisch waren. Ganz wenige waren jüdisch, und diese wurden meist von anderen Hilfsorganisationen vorgeschlagen, hatten evangelische Verwandte oder die Eltern äußerten die Absicht, dass die Kinder in Schweden getauft und evangelisch erzogen werden sollten.

Allerdings halte ich es als nicht gerechtfertigt dies der Israelmission zum Vorwurf zu machen: Das lässt nämlich außer Acht, dass auch die anderen Hilfsorganisationen im Normalfall ganz gleich handelten: die katholische ‚Hilfsstelle‘ unterstützte nur katholische ‚Nicht-Arier‘, und die Kultusgemeinde ausschließlich ‚Glaubensjuden‘. Die Israelitische Kultusgemeinde ging etwa so weit, christlichen ‚Nicht-Ariern’ im Regelfall die Aufnahme ins Rothschildspital zu verwehren. Da Nicht-Arier in normalen Krankenhäusern nicht mehr aufgenommen werden konnten, bedeutete dies manchmal auch den Tod der Patienten. Dies führte zu Verhärtungen unter den Missionaren und zu Plänen, eine eigene Krankenstation einzurichten, was jedoch nicht mehr durchgeführt wurde.

Im Falle der Israelmission kommt dazu, dass sie im Gegensatz zur katholischen Hilfsstelle und der Kultusgemeinde fast völlig auf sich allein gestellt war. Sie finanzierte sich im Wesentlichen durch Spenden von Gläubigen in Schweden und vereinzelten amerikanischen und britischen Organisationen. Von der österreichischen evangelischen Kirche kam hingegen keinerlei Unterstützung.

Die Haltung der evangelischen Kirche zu ihren Mitgliedern jüdischer Herkunft ist heute nicht das Hauptthema und es ist bereits öfters thematisiert worden. Trotzdem möchte ich es kurz anreißen, weil es meiner Meinung nach einer der Hauptgründe war, warum die Israelmission hierzulande ein solch gutes Image, fast einen Heiligenschein hatte. Ihre Hilfsaktionen für ‚Nicht-Arier‘ hoben sich so fundamental ab vom Umgang der Kirche mit ihren ‚nicht-arischen‘ Mitgliedern, der aus meiner Sicht nur als „schäbigster Verrat“ bezeichnet werden kann.

Johannes Jellinek, ein österreichischer, ‚nicht-arischer‘ Missionar der Israelmission schreibt etwa 1942:

„Typisch ist folgende kleine Episode, die sich in Wien 1938 nach dem Anschluss abspielte. Ein evangelischer Christ jüdischer Herkunft, der seit Jahrzehnten Mitglied im Kirchenrat war, suchte in seiner Verzweiflung seinen Pastor auf. Er hatte buchstäblich alles verloren, sein Heim, sein Einkommen und Vermögen, und wurde als Jude verfolgt, obwohl er evangelischer Christ war. Seine Frage war: ‚Was soll ich tun?‘ Und der einzige Rat, den ihm sein Seelsorger gab, war: ‚Es ist wohl am besten, wenn Ihr wieder zum Judentum übertretet.“ (Judafolket, 45)

Hedenquist beschreibt in seinen Memoiren seine Beziehung zur evangelischen Kirche in Österreich, und zwar in seiner gewohnt diplomatischen und verständnisvollen Art:

„Dr. Hans Eder wurde der erste evangelische Bischof, und trotz seines großen Parteiabzeichens zeigte sich, dass er ein ehrlicher und rechtschaffener Christ war.

Kurz nach dem ‚Anschluss’ wurde ich in das Amtszimmer des Bischofs gerufen. Er fragte, ob ich als Leiter der Schwedischen Mission die Verantwortung für Seelsorge und Gottesdienste für die vielen ‚nicht-arischen’ Mitglieder der Kirche übernehmen wolle. Diese könnten ja nicht mehr die Gottesdienste in den evangelischen Kirchen besuchen und auf den gleichen Bänken wie die arischen Gemeindemitglieder sitzen. Er appelliere nun deswegen an mich, weil ja schon bisher viele dieser evangelischen Christen zu den Zusammenkünften in der Seegasse gekommen wären.

Ich antwortete, dass ich aus prinzipiellen Gründen ablehnen müsse, da ich es als Pflicht der Kirche ansah, sich ihrer eigenen Mitglieder anzunehmen – besonders in ihrer jetzigen Notlage. Der Bischof stand auf, ging zur lederbezogenen Tür und verschloss sie sorgsam. Dann kam er zu mir und umarmte mich mit Tränen in den Augen. ‚Ich verstehe und respektiere eure Meinung, verehrter Amtsbruder. Aber was soll ich mit meinen Judenchristen denn machen? Ich habe selbst zwei elternlose, judenchristliche Pflegekinder, die ich vor Jahren in meinem Haus aufgenommen habe. Ich bin kein Antisemit, aber ich befinde mich in einer schweren Situation, da ich die geistliche Führung unserer Kirche innehabe. Auch deshalb bitte ich um eure Hilfe.’

Ich antwortete, dass meine prinzipielle Haltung aufrecht blieb, ich aber gleichzeitig einsah, dass ich kein Recht hatte, mich zu entziehen, wenn ich bei einer Lösung der Frage mithelfen konnte. Die Israelmission sollte nicht offiziell die Verantwortung für die judenchristlichen Mitglieder zu übernehmen, aber ich würde alles tun um ihnen zu helfen, wenn sie in die Seegasse kommen sollten, wo sie immer willkommen wären.

Der Bischof war dankbar dafür und versprach, sich, wenn es auf ihn ankam, mir den Rücken frei zu halten für meine Arbeit unter den erniedrigten und mehr oder minder ausgestoßenen Juden der Kirche.“

(Undan förintelsen, 31-32)

Es war also so, dass sich die Führer der evangelischen Kirche zurücklehnten und einfach zusahen, wie die Israelmission jetzt das ‚Problem‘ der Kirche löste, nämlich die

Es bleibt die Frage, wer geholfen hätte, wenn die Israelmission nicht hier gewesen wäre. Vermutlich nur die ‚Aktion Gildemeester‘, welche die Nationalsozialisten selbst eingerichtet hatten. Malla Granat, eine schwedische Quäkerin, die auch mit der Israelmission zusammenarbeitete, beschreibt den Unterschied zwischen den Kirchen folgendermaßen:

„Die römisch-katholische Kirche war offen für alle, für Arier und Nicht-Arier; in den

evangelischen Kirchen führte man Menschen mit dem gelben Stern zu einem diskreten

Platz auf der Empore. Die katholische Hilfsstelle hat regelmäßig Pakete mit Proviant und

Kleidung in die KZ geschickt. Als wir im Evangelischen Kirchenrat anfragten, hat man dort nichts von Konzentrationslagern gewusst.“ (Schweden-Österreich 2/1988, 11)

Ich habe in den Akten, die ich bearbeitet habe, eine einzige Stelle gefunden, in der sich die Evangelische Kirche bereit erklärte, sich den verfolgten evangelischen Nicht-Ariern anzunehmen, und sogar hier offenbart sich einmal mehr die unfassbare Feigheit der Kirche. Der Brief, den Malla Granat an Pernow schrieb, datiert vom Oktober 1942, nachdem sämtliche evangelische Nicht-Arier, die nicht geschützt waren, d.h. mit einem „Arier“ oder einer „Arierin“ verheiratet waren, aus Wien deportiert worden waren:

„Ich habe auch mit Pastor Liptak vom Oberkirchenrat über die Lage gesprochen. Er war sehr freundlich und versprach mir, sich der Seelsorge der verbliebenen evangelischen Nicht-Arier anzunehmen, was der evangelische Kirche nun leichter fallen sollte, da alle von ihnen ‚arisch versippt‘ sind.“ (Brief vom 22. Oktober 1942, Granat an Pernow, Kirchenarchiv Uppsala)

Es ist also begreiflich, dass angesichts einer solch verwerflichen Haltung der evangelischen Amtskirche und den meisten ihrer Pfarrer und Gläubigen, die Tätigkeiten der Israelmission in einem umso helleren Licht erstrahlten.

Dies hat allerdings dazu geführt, dass die Missionare und Diakonissen nicht mehr als Menschen erschienen, mit guten Seiten und mit Fehlern, sondern dass es zu einem wahren „Heiligsprechungsprozess“ bekommen ist.

Wir haben uns in den letzten 60 Jahren ein Bild von den Missionaren nach unseren Vorstellungen, unseren Wünschen zusammengebaut. Vielleicht, weil wir ganz genau das wollten: Wenn der österreichische Teil der Menschheit in den Jahren 1938-1945 mit wenigen Abstrichen komplett versagt hat, dann war das vielleicht leichter zu ertragen, wenn wenigstens der schwedische Teil der Menschheit nicht versagt hat. Wenn die evangelische Kirche in Österreich mit sehr wenigen Abstrichen komplett versagt hat, dann sollte wenigstens die Israelmission, mit den Worten des heutigen Bischofs Michael Bünker, „eine Insel sein, die aus der Versagensgeschichte der evangelischen Kirche herausragte“, dann sollten die Schweden mit den Worten eines anderen Geistlichen „der evangelischen Kirche in Österreich einen Hauch von Ehre“ gerettet haben.

Ich finde nicht, dass wir unsere gesamte Bewertung der Israelmission überdenken müssen, aber ich glaube, dass wir einmal alle Fakten auf den Tisch legen sollen. Und dann müssen wir für uns selbst zu einem Ergebnis kommen, wie wir mit diesen als antijüdisch zu bezeichnenden Einstellungen und dem sonstigen Versagen der Israelmission heute aus unserer Perspektive umgehen wollen.

AEBW – Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Bildungswerke in Österreich, Schwarzspanierstrasse 13, A-1090 Wien